Gegenstände für den geistigen Gebrauch: Joachim Griess
Heidi Stecker, Leipzig

Die subtilen Blätter von Joachim Griess stehen in der Tradition konkreter Kunst. Der Begriff wurde 1924 vom niederländischen Künstler und Kunsttheoretiker Theo van Doesburg publik gemacht. Für van Doesburg war Malerei „ein Mittel, um auf optische Weise den Gedanken zu verwirklichen“, nicht um willkürlich als Tatsache aufgefasste Momente zu visualisieren. Konkrete Kunst ist darum auch nicht abstrakt; sie abstrahiert nichts in der materiellen Realität Vorhandenes, sondern ist ganz durch Konstruktion erzeugt und völlig rein von Partikeln mimetischer Nachahmung. Vom Konstruktivismus und von abstrakter Kunst grenzt sich konkrete Kunst durch die Erforschung geometrischer Gesetzmäßigkeiten ab. Sie geht vom unmittelbaren Umgang mit den Bildmitteln Linie, Farbe, Fläche, Volumen, Raum aus, konzentriert sich auf das Interesse an der Farbe und deren Zusammenspiel mit der Form. Konkrete Kunst materialisiert Geistiges; sie besitzt keinerlei symbolische Bedeutung und verweist nicht auf ein verborgenes naturalistisches Eigentliches. Wassily Kandinsky formulierte den Sachverhalt so, „dass Kunst nur sich selbst zum Inhalt haben kann. [Sie ist – HS] nicht die Idee von irgendetwas, sondern nur die Idee von der Kunst selbst […] Die ureigene Idee der Kunst ist ihre Gegenstandslosigkeit.“
Joachim Griess wiederholt Rhythmen, Strukturen; die repetierten Striche und Flächen ordnet er klar mit Schwarz und Weiß, kombiniert mit leuchtenden oder gebrochenen Flächen. Diese werden sorgsam in einem durchaus materialen Arbeitsprozess kontemplativ gegliedert, der den Blättern durch vielfaches Abdecken, Abkleben und Überarbeiten die Zeit quasi einschreibt. Die Oberflächen werden mit Ölpastell sowie mit zarten, dichten Bleistiftlinien und auf Abstand gesetzten Geraden bedeckt. Die Zeichnungen sind seriell angelegt, Module erscheinen erneut. Farb- und Flächenkombinationen werden durchgerechnet und erhalten vor allem in der Nahsicht ein wiedergängerisches Leben. Areale pulsieren, Horizontale und vertikale Formen entfalten ein meditatives Dasein. Es sind leise Blätter, die flüstern und wispern und Immanuel Kants „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ aufrufen.
Für Theodor W. Adorno verblieb zwar auch in der modernen, nicht mehr an Darstellbarkeit orientierten Kunst das Mimetische im Mittelpunkt. In seiner 1970 posthum erschienenen „Ästhetischen Theorie“ schrieb er, dass Kunst aus „Mimesis und Konstruktion“ bestehe. Indem Kunstwerke das, was sie an Stoff aus der Wirklichkeit beziehen, anders und im Grunde besser, weil konzentrierter konstruieren, kreieren sie einen Kosmos, in dem die Teile zum Ganzen nicht in einem Unterordnungsverhältnis stehen. Bereits dadurch erweist sich in Adornos Sicht wichtige Kunst als Kritik an solchen gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen das Einzelne dem fragwürdigen Gesetz des Ganzen geopfert wird.1 Bei Griess sind die Strukturen gleichberechtigt, das einzelne Element stärkt emanzipiert die Gesamtheit ganz für sich und im Ensemble, in der Schöpfung, im Geschöpftsein.
In den feinen Blättern von Griess finden sich immer wieder Doppelungen, Gedoppeltsein, Vervielfältigungen, Rapporte, Spiegelungen. Spiegelung braucht den Moment des Stillstands, damit ein Bild sichtbar wird; das Bild wird sonst im nächsten Augenblick verwischt, verschwommen. Seine Blätter zeigen feinste, nuancierteste Bearbeitungsspuren mit leisen und kräftigen Tönen, die geschichteten Oberflächen dämmen, was zu grell wäre, und sorgen für Nachhall. Eine strenge, genau abgewogene, akzentuierte Musik ertönt in diesen Tafeln, einzeln, im Duo und im Block.
Max Bill definierte 1947: „das ziel der konkreten kunst ist es, gegenstände für den geistigen gebrauch zu entwickeln, ähnlich wie der mensch sich gegenstände schafft für den materiellen gebrauch. […] konkrete kunst ist in ihrer letzten konsequenz der reine ausdruck von harmonischem

Strichsaat – Zur Ausstellung „Résumé“ von Joachim Griess im LOGOI 2021
Texten und Assoziationen von Dr. Dirk Tölke, Kunsthistoriker – Aachen

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Distanz und Nähe finden zur Zeit erhöhte Aufmerksamkeit. Dabei geht es nicht primär um Grenzen, sondern um Abstände. Das gilt auch für ästhetische Konzepte. Dort haben die Abstände mit Proportionen zu tun, ganz klassisch mit dem Verhältnis der Körperteile zueinander, die ein Ideal anstreben, oder grundsätzlicher mit dem Verhältnis von Flächen und Linien. Ganz konkret befasst sich damit die Richtung der Konkreten Kunst, die nicht die Natur abbildet, nachahmt oder vereinfacht und abstrahiert, sondern mit unabhängigen Modulelementen oder Farben einen eigenen Kosmos von Formen und Strukturen erfindet, der seinen ästhetischen Reiz aus der Verhältnishaftigkeit der Elemente und der Oberflächenwirkung dieser subtil ausgewogenen oder kontrastgesteuerten Gefüge gewinnt.

Von der Farbe der Wandfläche über die Wahl des Formats, die Dimension des Rahmens, die Breite eines Passepartouts und die Betonung der Blattränder sind schon Entscheidungen folgenreich, bevor ein Strich auf die Leinwand gesetzt wird. Gleichwohl geht nach der Festlegung der Bildfläche die Entwicklung der Arbeit von Grundentscheidungen aus, die zu einer Vielzahl von Werken führen können, wie sie gerade im Logoi ausgestellt werden.
Mit sanfter Präzision zieht Joachim Griess darauf einzig und allein Linien und erzeugt mit Überlagerung und teils farblicher Verdichtung Rasterstrukturen, die anfangs stark von Quadratformen und später von Rechtecken geprägt wurden. In der Setzung dieser Linien, die nur parallel oder rechtwinkelig überkreuzend zueinander liegen, bilden sich für ihn Themen heraus. Das Format, die Entscheidung schwarz-weiß oder farbig, die Wahl des Papiers, des Holzes oder Steins, das Material Bleistift, Kugelschreiber, Beize oder Ölpastell oder die Linienführung mit oder ohne Lineal bzw. mit einfachem oder mehrfach überlagertem Strich gehören dazu. Dann folgt die Rasterstruktur, die Abstände und Proportionen der Linien zueinander, die Dichtigkeit der Linien. Die Strichdicke kann gleichmäßig sein, variieren, eine Blatthälfte unabhängig weiterentwickelt werden, bzw. bei einer blockhaften Aufteilung ein Wechselspiel der Nuancen betont werden. Was so banal und nüchtern klingt, bekommt in jedem Blatt des Künstlers einen neuen Klang, der langsam entwickelt und keineswegs langweilig wird. Gestalterisch sind die Arbeiten durch sauberes Abkleben einzelner Felder mit konzentrierter Sorgfalt erzeugt. Der Vorteil für den Künstler, der ausgebildeter Steinbildhauer mit Denkmalpflegeaufträgen und diplomierter Künstler mit Ausbildung in Maastricht und an der HBK Berlin ist, besteht darin, die ohne Impulsivität auskommende Arbeit jederzeit unterbrechen und wieder aufnehmen zu können. Mit handwerklicher Präzision und hoher Konzentration kommen saubere Bildfelder zustande, die meditativ wirken und auch sorgfältig aufeinander abgestimmt sind, weil sie in einem langsamen Prozess entstehen, der in Maßen von Hell nach Dunkel, aber nicht umgekehrt, steuerbar ist und das Ziel einer harmonisch sensibilisierenden Wachheit verfolgt. Obwohl auch sehr linealgerade Linien auftreten, ist das meiste händisch erwirkt und von der Saugkraft des Papiers im Verlauf individualisiert.
Der Eindruck klinischer Härte und plakativer Abgrenzung kommt nicht auf. Dazu tragen auch die milden Farbnuancen aus dem Farbkanon von Ende der 1950er Jahre bei. Die fertigen Bilder erinnern dann schon wieder an Seherfahrungen des Künstlers in ausgebesserten Kirchenwänden und Bodenfliesen, in Gerüsterastern, Linolfußböden oder Plattenwerkstoffen. Maserungen und maschinengerechte Streifenstrukturen gehören zu unserem Alltag. Die Farbnuancen des Verblassens, Verwitterns und Alterns haben ihren Reiz jenseits der Werbegrelligkeit.
Darauf verweist Joachim Griess mit seinen Konstruktionen, er bildet sie nicht ab, sondern er erzeugt sie strukturell ähnlich, aber eigenständig und gestaltet diese Wirklichkeitserfahrung mit konzentriertem Fleiß und gezügeltem Impuls zu gegenwärtigem und durchaus individuellem Ausdruck mit eigener Phantasieleistung im abwechslungsreichen Arrangement seiner Linienbildungen.
Auch für diese gegenstandslose Welt gibt ein Text von Wolfgang Mattheuer vom 12.11.1967 Anregung (ders.: „Äusserungen”, Leipzig 1990, S. 10): 

„Ohne Phantasie entsteht nichts Neues, nur Wiederholung – und Langeweile, die Frucht phantasieloser Wiederholungen – Sinnlosigkeit. Phantasie haben, heißt nicht, sich begnügen im subjektiv-willkürlichen ziellosen Spiel mit Wirklichkeitspartikeln, sondern es heißt, die realen Möglichkeiten, den Sinn und die Bedeutungen der Gegebenheiten in der Vorstellung zu erproben. Die Möglichkeiten sind unerschöpflich, zumal die Gegebenheiten im ständigen Wandel sich entwickeln. Phantasie braucht es, um aus dem Fluß der Dinge, Gedanken und Gefühle, die die Zeit ausmachen, wesentliche Teile und neue, erhellende Beziehungen zwischen den Teilen bedeutend im Bilde zu fixieren. Die Qualität der Beziehungen der Teile, Dinge oder Gegenstände zueinander im Bilde, aber nicht der Dinge und Teile an sich, ist die Qualität der Phantasie und bestimmt mit die Qualität des Kunstwerks.“

Kunst braucht notwendigerweise weder kostbare Materialien, noch bedeutende Themen oder imposante Effekte. Joachim Griess erzeugt mit seinen scheinbar kargen Werken dezent spannungsreiche Wirkungen, die spürbar sind und die weniger auf Sinn, als auf Sinnlichkeit aus sind. Zu diesem Tenor von Empfindsamkeit ist ihm wiederum ein Text von Georg Schmidt ein hilfreicher Begleiter: 

„Gelöst von der Bindung an die Naturerscheinung und gebunden an die Naturgesetze, gibt die konkrete Kunst dem erfindenden Geist, der schöpferischen Phantasie die denkbar größte Freiheit. Vom Betrachtenden aber verlangt diese Kunst drei Dinge: stete Verfeinerung der Sinne, Heiterkeit des Gemüts und Wachheit des Geistes. Und dem, der willig ist, ihre Sprache zu lernen, dem gibt sie diese drei Dinge, die das Kostbarste sind, das wir haben können, mit Zinsen zurück: Verfeinerung der Sinne, Heiterkeit des Gemüts und Wachheit des Geistes.“
Die nicht chronologisch gehängte Ausstellung „Résumé“ umfasst Werke der letzten 20 Jahre und beginnt mit Arbeiten, die in Montauk bei New York während eines Stipendiums von Edward Albee („Wer hat Angst vor Virginia Woolf“) entstanden, der in einer für zwei bildende Künstler und drei Schriftsteller ausgebauten Scheune, Arbeitsbegegnungen ermöglichte – tagsüber still, abends gesellig. In einer Schreinerei arbeitend, entstanden 1999–2003 auch 16 quadratische Tafeln mit Farbstreifen, die bis heute mehrfache Überarbeitungen erfahren haben und statt als Quadratblock nun als schräge Stapelung präsentiert werden – Zeichen einer ständigen Weiterentwicklung auch innerhalb eines Einzelwerkes und mit seinen Pop-Art-affinen Pastelltönen ein Résumé ganz eigener Art, überarbeitet sowohl in Lebensphasen in Berlin, wie in Aachen. Dazu gehört auch eine Gruppe, in der mit asymmetrischen Streifenlagen gearbeitet wurde.
Monotonie strahlen die Werke von Joachim Griess nicht aus. Ihre subtile Strenge und freundliche Farbigkeit lenkt den Blick eher auf die Materialität der empfindlich wirkenden Oberflächenerscheinungen und Strukturen. Wie die größeren Arbeiten im Fenster zeigen, kommen die Gefüge durchaus selbstbewußt daher und bilden je einen eigenen akkordhaften Ton, sopranhaft zwischen Hochglanz und Diesigkeit und von gediegener Ruhe, obwohl beim Herstellen durchaus die Nerven mal blank gelegen haben dürften.
Zu diesem ständigen Prozess des Planens, Abwägens und Reifens gehört auch das Arrangement und Wechselspiel der Einzelarbeiten miteinander im Ausstellungsaufbau, die Zwiesprache, die Orchestrierung des Gesamtklanges, auf den es in Ermangelung eines gewöhnlichen Informationsgehaltes maßgeblich ankommt und der vorsortierte Anleitung zum eigenen differenzierten Wahrnehmen und Nuancieren werden kann, Nahrung für die Sinnlichkeit? Leider ist sie im Digitalen gemindert und es empfiehlt sich, Einzelbesuche in Anspruch zu nehmen, die sich in Corona-Zeiten aus Gründen des Abstandes erzwingen.